Schiffshavarie und Giftalarm für Cuxhaven: Übungsszenario kennt keine Gnade
Im Ernstfall muss der Katastrophenstab der Stadt Cuxhaven kühlen Kopf bewahren. Auch wenn es um Szenarien geht, die sich niemand vorher hätte vorstellen können. Dabei basierte das, was am Mittwoch über Cuxhaven hineinbrach, auf einem wahren Ereignis.
Ein Containerschiff, das in stürmischer See auf der Nordsee 342 Container verliert, die nicht nur ein gefürchtetes Schifffahrtshindernis darstellen, sondern auch - samt teils brisanter Ladung - auf die Küste zutreiben: Das ist kein Fantasie-Szenario, sondern wurde im Januar 2019 genau so Realität. Am Mittwoch wurde in Cuxhaven das Geschehen um die damalige Havarie der MSC Zoe wieder lebendig.
Der reale Fall stand - an einen anderen Schauplatz verlegt und um diverse Ereignisse erweitert - im Mittelpunkt einer Stabsrahmenübung in den Räumen des Katastrophenschutzes in der Grandauerstraße. Als die per Handy alarmierten Mitglieder des Katastrophenstabs am Mittwochmorgen in der Zentrale eintrafen, ahnten sie davon noch nichts.
Erste Kollision lässt nicht lang auf sich warten

Schon der Einstieg verhieß für die Cuxhavener Küste nichts Gutes: Nachts im Orkan sollte das Containerschiff MSC Zoe vor Neuwerk 342 20-Fuß-Container verloren haben, von denen mehrere Gefahrgut enthalten. Gegen 6 Uhr war (natürlich auch dies nur eine Fiktion) ein Tankschiff namens "Cavalli" mit einem treibenden Container kollidiert und lag nun mit einem Leck, aus dem bereits 4000 Tonnen Öl gelaufen waren, im Cuxhavener Hafen. Ein Teil der Container trieb unterdessen auf die Cuxhavener Strände zu, musste gesichtet und geborgen werden, während gleichzeitig der Orkan weiter tobte und auch eine sehr schwere Sturmflut die Küste bedrohte. Das Ganze in Echtzeit, also genau jetzt.
Per App in die Zentrale gerufen
Es gab also direkt viel zu tun für die Kräfte, die nach einem abendlichen Voralarm am Morgen durch das Signal der App "Divera 24/7" zum Dienst beordert worden waren. Die Berechtigung zum Einberufen des Katastrophenstabs ist übrigens allein Sache des Oberbürgermeisters.

Im Ernstfall Dreischicht-Betrieb rund um die Uhr
Rund 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt, Fachberaterinnen und -berater der DLRG, des DRK und des THW und vieler weiterer Organisationen sowie Verbindungsbeamtinnen und -beamte von Bundeswehr (Kreisverbindungskommando) und Polizei sollen im Ernstfall die Fäden in der Hand halten. Eine doppelte Besetzung aller Posten soll den Dreischicht-Betrieb - rund um die Uhr und auch für mehrere Tage am Stück - jederzeit gewährleisten.

Jeder kennt seine Rolle und Verantwortung
Das Zusammenwirken wird unter anderem bei sechs Schulungen und zwei Stabsübungen im Jahr geübt. Entsprechend routiniert gingen die Beteiligten am Mittwoch zur Sache: Anna-Lena Hesse als Leiterin des Stabes und ständige Vertretung der Verwaltungsspitze, die Angehörigen der sechs Sachgebiete (Personal, Lage, Führung/Einsatz, Versorgung, Presse und Medienarbeit sowie Kommunikation/interne EDV) und eine Gruppe von Leuten, die die "Außenwelt" darstellten (zum Beispiel Nahrungsmittel- oder Treibstofflieferanten, Transportunternehmen oder Ministerien).
Der Hauptverwaltungsbeamte (sprich: OB) selbst, der im Notfall seinen Kopf hinhalten muss, nimmt im Ernstfall erfahrungsgefäß die Rolle eines Bindeglieds zur Öffentlichkeit ein und bewegt sich auch draußen im Geschehen. Bei dem großen Medieninteresse bei Sturm und Sturmflut in Cuxhaven kam Uwe Santjer zuletzt auf bis zu 17 Interviews am Tag.

Drei Azubis spielten Bürger am Telefon
Eine Besonderheit war am Mittwoch das scharf geschaltete Bürgertelefon: Ein halbes Dutzend Mitarbeiter nahm im Sitzungssaal Vannes im Rathaus die Anrufe entgegen, hinter denen in Wirklichkeit drei Auszubildende im Nebengebäude steckten. Sie spielten die Bürger - wie im echten Leben mal freundlich, mal wütend oder verängstigt.
25 Personen durch gefährliches Pestizid verletzt
Diese Gruppe sollte mit der nächsten unerwarteten Wendung noch richtig zu tun bekommen, denn mitten in der 11-Uhr-Lagebesprechung in großer Runde stand plötzlich eine noch größere Gefahr im Raum: Eine aus einem im Duhner Loch gestrandeten Container ausgetretene Chemikalien-Wolke, die bereits 25 Personen verletzt hatte und aufs Festland zuzutreiben drohte. Plötzlich musste auch noch eine Evakuierung Duhnens organisiert werden.
Fragen fliegen durch den Raum
"Das haben nicht mal unsere Abteilungsleiterin oder der taktische Einsatzleiter vorher gewusst", verrät Gerd Klemusch, Katastrophenschutz-Beauftragter der Stadt, während neue Fragen durch den Raum fliegen: Wo kann die Dekontamination der Verletzten stattfinden? Wie viele Opfer kann die Helios-Klinik Cuxhaven aufnehmen? Wohin treibt die Wolke? Wer informiert die Medien, warnt die Bevölkerung, bereitet die Notunterkünfte vor? Und wie viele Einwohner hat Duhnen samt Feriengästen eigentlich im November?

Minutengenaue Vorhersage der Ausbreitung
Die Dimensionen werden greifbar, als André Schurig von der DLRG Minuten später eine echte Prognose des Deutschen Wetterdienstes vorzeigen kann. Minutengenau wird dabei die Ausdehnung der sogenannten "Ausbreitungskeule" (so sieht es auf einer Karte aus, wenn sich die Gase von einem Ort aus verbreiten) vorhergesagt. Was eben noch am Duhner Loch begann, stellt plötzlich eine Gefährdung am Festland dar. Das verursacht Gänsehaut, auch wenn alles nur eine Übung ist. Wie im Erstfall wird alles, was gesagt und getan wird, dokumentiert und gerichtsverwertbar in einem Tagebuch festgehalten.

Diesmal findet der Schichtwechsel bereits nach viereinhalb Stunden statt, denn auch eine solche Übergabe muss geübt werden. Der Feierabend beginnt nicht vor einer ausführlichen Manöverkritik. Die wenigen Personen, die außer den Kollegen Lukas Nietfeld (Zivilschutz) und Gerd Klemusch (Katastrophenschutz) in das Szenario eingeweiht worden waren, hatten dichtgehalten, Haupt- und Ehrenamtliche hatten optimal zusammengespielt.
Die gesamte Zentrale kann bei Stromausfall autark weiterbetrieben werden. Die Stromversorgung erfolgte auch bei der Übung am Mittwoch über ein Notstromaggregat.