
Urteil zugunsten eines Cuxhaveners (20): Griff nach dem Messer war Notwehr
Vor einer Jugendkammer am Landgericht ist ein Heranwachsender vom Vorwurf des versuchten Totschlags und der gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung freigesprochen worden. Die Richter erkannten am Dienstag auf eine Notwehrsituation.
Aus ihrer Kammersicht ergaben sich außerdem keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte darauf aus gewesen wäre, einen seiner vormals engsten Freunde tödlich zu verletzen.
Gleichwohl - darauf wies die Kammervorsitzende in der Urteilsbegründung explizit hin - war in der Tatnacht eine Menge Glück im Spiel gewesen: Glück, dass der 23 Jahre alte Kumpan nicht "tot liegengeblieben" war, nachdem einer der beiden gegen seinen Oberkörper geführten Messerstiche zumindest zu einer kleinen Öffnung des Lungenraumes geführt hatte. Unter Berufung auf einen im Verfahrensverlauf gehörten Sachverständigen sprach die Richterin von einem typischen Verletzungsmuster bei Messerstechereien.
Richterin spricht von "hochdynamischer" Situation
Doch wie hatte es in jener Novembernacht im Jahr 2024 überhaupt so weit kommen können? Wie berichtet, hatte sich eine Gruppe junger Leute verabredet, um einen gemeinsamen Abend zu verbringen. "Chillen" nannten die Freunde das - ein vermutlich öfter gepflegtes Ritual, das den Genuss größerer Mengen Alkohol und des ein oder anderen Joints einschloss. Als gesichert darf laut Kammer gelten, dass die Beteiligten des Gelages schon einigermaßen angetrunken waren, als die Situation in der Wohnung einer im Stadtteil Lehfeld lebenden Bekannten aus dem Ruder lief. Dabei soll es der Geschädigte gewesen sein, der durch besonders aggressives Verhalten auffiel - und zunächst mit einer weiteren Person in einen handgreiflich ausgetragenen Streit geriet.
Die Stimmung war vermutlich im Eimer, und der Beschuldigte will sich bereits zum Gehen gewendet haben, als er vom Geschädigten in eine Glastür geschubst wurde. Deren Scheibe barst; der 20-Jährige, der sich in Absprache mit seinem Anwalt Torben Rühmkorf schon bei Verhandlungsauftakt geständig gezeigt hatte, verletzte sich an der Hand. Augenblicke später soll er sich unter den Geschädigten liegend wiedergefunden haben, der ihn mit Schlägen traktiert habe. In dieser laut Urteilsbegründung "hochdynamischen" Situation griff der Genannte dann zu einem in Reichweite liegenden Messer und stach zweimal zu.
Hart an der Grenze der Zulässigkeit
Die Kammer bejahte in ihrer Urteilsbegründung die Frage, ob diese Stiche im Sinne einer Notwehr-Handlung gerechtfertigt gewesen sind. Gleichwohl erkannte die Vorsitzende Redecker hier einen Notwehr-Exzess: "Hart an der Grenze oder sogar einen Tick darüber" sei besagte Messer-Antwort gewesen. Sie hielt dem Beschuldigten jedoch zugute, dass der selbst angetrunken gewesen war, Angst gehabt haben mag und sich subjektiv nicht zwingend darauf verlassen konnte, dass die anwesenden Freunde ihm rechtzeitig zur Hilfe kommen würden.
Der Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" sei auch in diesem Fall ins Gewicht gefallen, fuhr die Vorsitzende fort. Dem Freigesprochenen, der auf Kosten der Landeskasse einen Ausgleich für Unkosten und für die verbüßte Untersuchungshaft erhalten wird, gab sie allerdings einen Rat mit auf den Weg: "Machen Sie ihren Schulabschluss nach. Und lassen Sie in Zukunft die Finger von Messern!"