Wo die Stille spricht - und Cuxhaven seine Toten ehrt
Auf dem Brockeswalder Friedhof werden Tradition und Wandel lebendig. Hier treffen sich Vergangenheit und Zukunft, während stille Orte wie das Schmetterlingsfeld Geschichten erzählen, die niemals verloren gehen dürfen.
Die Sonne steht tief über Brockeswalde, als wir den Friedhof betreten - jenes 11 Hektar große Stück Stadt, das zugleich Park, Erinnerungsort und stiller Chronist von mehr als einem Jahrhundert Cuxhavener Geschichte ist. Ich bin an diesem Montagnachmittag nach dem Volkstrauertag unterwegs mit drei Menschen, die diesen Ort so gut kennen wie kaum andere: Petra Mückler-van Zon, Martin Wiebusch und Petra Switala. Dazu gesellt sich Marcel Kolbenstetter, Pressesprecher der Stadt.
Wir stehen auf dem Urnenfeld - die spätnachmittagliche Sonne wirft lange Schatten -, als sich das Gespräch öffnet wie ein Tor zu Themen, über die man selten spricht, bevor man darüber sprechen muss: Abschied, Bestattung, Erinnerung. Und darüber, was ein Friedhof heute eigentlich ist.
Ein Park, der tröstet - und sich wandelt
"Wir sind schon lange schwanger gegangen mit der Idee", sagt Petra Mückler-van Zon, während sie eine Handvoll helles Laub zur Seite wischt. "Wenn ein Todesfall eintritt, sind Angehörige in einer Ausnahmesituation. Und der erste Ansprechpartner ist fast immer der Bestatter. Wir als Stadt kommen häufig gar nicht vor."
Also entschloss sich Cuxhaven nun erstmals, eine Friedhofsbroschüre herauszugeben - gedruckt, zunächst in kleiner Auflage, gedacht als Einladung. Sie soll Orientierung geben: über Trauerhallen und Abschiedsformen, über muslimische Gräber, Urnenstelen, Baumgräber, historische Grabstätten, Kontaktdaten, Wege, Lagepläne. Doch vor allem soll sie zeigen, was Brockeswalde längst ist: ein Friedhof im Wandel.
Martin Wiebusch, der Mann mit dem grünen Daumen und einer beruflichen Vergangenheit, die hier begann, formuliert es so: "Ich habe meine Ausbildung 1984 hier gemacht - und nie den Bezug verloren. Heute ist Brockeswalde mehr Park denn je. Er ist grün, offen, und er ist ein Testfeld: Die Klimabäume hier zeigen uns, welche Bäume wir morgen in die Stadt holen können."
Zwischen Tradition und neuen Formen des Abschieds
Wer über den Friedhof geht, entdeckt eine Vielfalt, die weit über das klassische Erdwahlgrab hinausgeht. Da sind die pflegefreien Rasengräber und die anonymen Felder. Urnenröhren, deren Deckel zugleich Grabmal ist. Der stille, gepflegte Urnengarten, in dem Plaketten die Namen bewahren. Die aus hellem Stein gestalteten neuen Urnenstelen.
Und dort, wo der Friedhof zum Wald wird, öffnen sich die Baumgräber, die inzwischen zu den gefragtesten Bestattungsformen gehören. "Viele wollen ihre Kinder später nicht belasten", sagt Petra Mückler-van Zon. "Oder sind weggezogen. Es geht um Ruhe, aber auch um Entlastung. Und um Schönheit." Cuxhaven bietet hier Alternativen, die viele nicht kennen. "Wenn wir Leuten die Felder zeigen, hören wir oft: Das wussten wir ja gar nicht", erzählt sie.
Das Schmetterlingsfeld - ein Ort, der leise spricht
Wir bleiben stehen an einem der jüngsten Orte des Friedhofs: dem Schmetterlingsfeld, 2023 eingeweiht, geschaffen für stillgeborene Kinder unter 500 Gramm - Kinder ohne Bestattungspflicht, aber niemals ohne Geschichte. "Ein Ort des Trostes und der Hoffnung", sagt Mückler-van Zon leise. Der Schmetterling über dem Feld steht für die Zerbrechlichkeit und zugleich die Würde dieser kleinen Leben.
"Hierher kommen Eltern, Geschwister, Großeltern. Der Ort hilft", ergänzt Petra Switala. Vier Jahre arbeitet sie inzwischen auf dem Friedhof - und seitdem hat sich ihr Blick auf diesen Ort gewandelt. "Die Dankbarkeit der Menschen gibt sehr viel zurück."
Geschichten, die nicht verloren gehen dürfen
Der Friedhof erzählt Vergangenheit - und Zukunft zugleich. Doch was geschieht mit historischen Grabstätten, deren Angehörige nicht mehr vor Ort sind? "Wir haben ein eigenes Feld", sagt Mückler-van Zon. "Drei Grabsteine stehen dort bereits. Wenn eine Familie aufgibt, prüfen wir: Steckt eine Cuxhavener Geschichte dahinter?" Langfristig sollen die Steine QR-Codes tragen, die auf Texte verlinken, die erklären, wer hier gelebt hat, gewirkt hat, geblieben ist. Ein digitaler Spaziergang durch die lokale Geschichte. Auch der Internetauftritt der Friedhöfe wird neu gestaltet - die Broschüre ist nur der Anfang.
Wo Menschen sich begegnen - und Trost finden
Der Brockeswalder Friedhof ist längst auch ein sozialer Ort. "Meine Verwandtschaft trifft sich hier manchmal wie andere im Café", erzählt Marcel Kolbenstetter mit einem Lächeln. "Kaffeekanne, Klapphocker, Gespräche über Gott, das Leben - und den, der fehlt." Damit beschreibt er, was Oberbürgermeister Uwe Santjer im Vorwort der Broschüre formuliert: Friedhöfe sind grüne Oasen, sie spenden Ruhe - und sie öffnen Herzen.
Ein Ort, der lebt - gerade im November
Der Rundgang endet an der Trauerhalle. Wind fährt durch die fast entlaubten Bäume. Am kommenden Totensonntag, 23. November, wird hier wieder Trompeter Ulrich Schultz spielen - ein Ritual, das Gänsehautmomente schafft. Dreimal wird seine Trompete erklingen: auf der Mittelachse, am Eingang, zwischen den Feldern.
"Von guten Mächten wunderbar geborgen" - wenn diese Melodie durch Brockeswalde zieht, scheint die Zeit stillzustehen. Und vielleicht ist es das, was dieser Friedhof am besten kann: Er schenkt den Toten einen Ort - und den Lebenden einen Weg.





