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Fotos: Cordes (1), Archiv (1)
Das Schneidemühl-Archiv –
eine wahre Fundgrube
Zu „normalen“ Zeiten hätten die letzten August-Tage
die Schneidemühler nach Cuxhaven geführt. Denn wie
in jedem Jahr wäre das der Ort ihres „Heimattreffens“.
Dieses Mal sogar wieder mit den polnischen Gästen aus
der Stadt Piła, wie das einstige Schneidemühl heute heißt.
Doch Corona hat den Planungen
einen Strich durch die Rechnung
gemacht – die Stadt sagte das
Partnerschaftstreffen für dieses
Jahr ab. Den von Jahr zu Jahr kleiner werdenden
Kreis der Schneidemühler hat das
schon geschmerzt. Denn wer weiß, wer von
ihnen sich nächstes Jahr noch auf den Weg
machen kann.
Zwei allerdings haben sich unlängst auf
den Weg gemacht, um in dem im Volkshochschul
Gebäude untergebrachten Archiv
des Heimatkreises zu ordnen: Rosemarie
Pohl, Schatzmeisterin und vielgefragte Ansprechpartnerin
in Sachen Schneidemühl,
und Dörte Haedecke, die die Heimatkreis-
Kartei betreut. Nach Renovierungen und
Umbauten im VHS-Gebäude an der Abendrothstraße
hieß es für die Schneidemühler,
sich mit ihrer „Heimatstube“ und dem
darin untergebrachten Archiv von drei
Räumen auf einen einzigen Raum zu verkleinern.
Zwar misst der 26 Quadratmeter
und ist damit für sich genommen sogar größer
als die jeweils kleineren Räume – dennoch
erforderte die neue Situation grundlegende
Entscheidungen.
Was behalten wir, wovon trennen wir uns?
Und dabei ging’s eben nicht nur um das
Mobiliar, sondern vor allem um das Archiv
mit der Bibliothek, den gesammelten
Heimatbrief-Ausgaben, den aus diversen
Nachlässen stammenden Archivmaterialien,
es ging um Urkunden, historische
Fotos und Adressbücher. Mancher Wissenschaftler,
der in den letzten Jahren aus dem
polnischen Piła anreiste, um zu erkunden,
was diese Stadt einst als Grenz- und Regierungsstadt
Schneidemühl gewesen war
und bedeutet hatte, bezeichnete das Archiv
als „eine wahre Fundgrube“. Und das Interesse
der Enkelgeneration ist, wie Rosemarie
Pohl kürzlich in einem Gespräch in
der „Heimatstube“ betonte, gerade in den
letzten Jahren immer größer geworden. So
wie etwa das jener Abiturientin aus Zürich,
deren Großeltern viele Jahre beim Bundesdelegierten
Treffen in Cuxhaven waren,
und die nun ihre Abi-Arbeit über die Flucht
aus Schneidemühl schreibt. Mit einem detaillierten
Fragenkatalog hat sie sich an Rosemarie
Pohl gewandt und sie gebeten, aus
der Erinnerung die Situation unmittelbar
vor der Flucht, den Aufbruch und Verlauf,
dann die Ankunft im Westen und die Integration
dort zu beschreiben. Was musste damals
alles zurückgelassen werden, was geschah
auf der Flucht, wie war danach „das
Ankommen und Weiterleben“. Rosemarie
Pohl hat, wie sie sagt, auf all die Fragen so
umfassend wie möglich geantwortet. Weil
auch sie der Meinung ist, dass das Geschehene
und Gewesene nicht vergessen und
eines Tages ganz und gar verschwunden
sein soll.
Dass es nun die Enkel sind, die kommen
und wissen wollen, wo die Großeltern damals
in Schneidemühl gewohnt haben, in
welche Schule sie gegangen sind – das hat
viele Gründe. Die Kinder der Flucht-Generation
waren da weitaus weniger wissensdurstig.
Vielleicht, weil deren Eltern über
all die Schrecknisse nicht reden wollten.
Vielleicht aber auch, weil sie mit dem Aufbau
einer neuen Existenz in fremder Umgebung
voll und ganz beschäftigt waren.
Rosemarie Pohl und Dörte Haedecke kennen
das aus eigener Erfahrung.
Das Thema Archiv und wo es in Zukunft
seinen Platz haben soll, hat bei den letzten
Treffen des Heimatkreises Schneidemühl
in Cuxhaven wiederholt eine Rolle gespielt.
Und zwar eine durchaus umstrittene. Im
Mitgliederkreis gibt es vereinzelte Stimmen,
die dafür plädieren, das Archiv ganz
nach Piła zu verlagern. Nach dem von der
Zum Sichten kürzlich im Schneidemühl-Archiv:
Rosemarie Pohl (links) und Dörte Haedecke.