
Als ich aufwache, ist es ringsherum
noch immer stockdunkel. Der
Rest der Familie schläft, ich höre
regelmäßige Atemzüge auf der
Luftmatratze zu meiner Linken, aber auch
ein Rascheln auf der anderen Seite der
Zeltwand, etwa zwei Hand breit entfernt
von meinem Kopf. Ein Tier, denke ich,
nicht besonders groß, eine Maus vielleicht
oder ein Igel. Vorsichtig stupse ich mit der
Hand gegen das Innenzelt, lausche. Das
Geräusch bricht ab und ist fortan nicht
mehr zu hören. Ich liege wach und frage
mich, wie viel Uhr es wohl sein mag. Gegen
Zehn sind wir am Vorabend in die Schlafsäcke
gekrochen. Da waren unsere Nachbarn,
die circa 50 Meter entfernt ihr Lager
aufgeschlagen haben, noch zum Feiern
aufgelegt: Aus einer Bluetooth-Box drang
erst Rap und dann Robbie Williams – wo
wir uns doch auf Fröschegequake und das
leise Wispern des Schilfs eingestellt hatten.
Doch die Zeltwiese dieses an für sich
schönen Platzes liegt ein Stück weit vom
Seeufer entfernt. Möglicherweise nicht
das optimale Setting für jenes Mikroabenteuer,
auf das wir ursprünglich aus waren.
Andererseits geht es am Ende nur um die
Frage der Defi nition. Übersetzt man das
Modewort mit der seitens der Duden-Redaktion
vorgeschlagenen Bedeutung, sind
die Kids nebenan Mikroabenteurer im
besten Sinne des Wortes: „Unweit der eigenen
Wohnstätte“ (Bremerhaven) wagen
sie eine „Übernachtung im Freien“.
Was bringt Menschen dazu, den Kofferraum
oder besser noch: den Rucksack mit
Camping-Equipment zu füllen und sich
ein paar Kilometer entfernt vom bequemen,
heimischen Bett auf eine Wiese zu
legen?
In der Vergangenheit war das ein Hobby
von Möchte-gern-Rüdiger-Nehbergs oder
von sogenannten „Gear Nerds“ – Menschen,
die für teures Geld Ultraleichtzelte
oder ein tragbares Solarpanel erstanden
haben und es pro forma wenigstens einmal
ausprobiert haben wollen. Inzwischen ist
der Rückzug in die vor der Haustür liegende
Natur beinahe zu einem Massenphänomen
geworden, das seine Popularität
womöglich den mit der Corona-Pandemie
einhergehenden Reisebeschränkungen, in
jedem Fall aber dem Briten Alastair Humphreys
verdankt. Der Abenteurer, der viermal
um die Welt geradelt sein soll, kam auf
die Idee, sich entlang der um London verlaufenden
Ringautobahn in die Büsche zu
schlagen – und hat mit einem Buch über
solche microadventures einen Bestseller
gelandet.
Der Name Humphreys sagte mir übrigens
nichts, als ich im Frühsommer dieses
Jahres zu einem ersten Wochenendtrip
aufbrach. Gerade waren wir von einer Urlaubsreise
zurückgekehrt, die wie immer
viel zu kurz gewesen war. Outdoor-Jacken,
Wanderschuhe und mein Taschenmesser –
all das befand sich ohnehin noch im Auto.
Warum also nicht ein wenig im Urlaubsmodus
verharren und sich wenigstens
samstags und sonntags der Illusion hingeben,
aller Verpfl ichtungen ledig, in den
Tag hinein leben zu können? Ich suchte
nach einem zuletzt selten benutzten Spirituskocher
und kramte ein verblichenes
Kuppelzelt hervor, das mich seit mehr als
30 Jahren begleitet. Das Packen ging fi x,
eine Antwort auf die Frage, wohin wir eigentlich
fahren wollten, ließ sich nicht
ohne Weiteres aus dem Handgelenk schütteln.
Mit Kind an Bord möchte man sein
Nachtlager dann doch nicht vollkommen
Unser Autor wollte ein Stück
Urlaubsgefühl in den Alltag hinüberretten
und suchte an mehreren
Wochenenden nach geeigneten
Zeltplätzen: Naturnah und doch
„familienkompatibel“ sollten sie sein.
6
Kleine
Fluchten