Seit das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die 2G-Regelung für den Einzelhandel in Niedersachsen gekippt hat, wurden bereits viele kritische Stimmen laut. Foto: Christophe Gateau/dpa
Seit das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die 2G-Regelung für den Einzelhandel in Niedersachsen gekippt hat, wurden bereits viele kritische Stimmen laut. Foto: Christophe Gateau/dpa
Corona in Niedersachsen

Kreis Cuxhaven: Brauchen wir 2G im Einzelhandel?

25.12.2021

KREIS CUXHAVEN. Niedersachsen ist das einzige Bundesland, in dem keine 2G-Regel im Einzelhandel gilt. Hier können auch ungeimpfte Menschen einkaufen gehen. Doch wie angebracht ist die Kritik seitens Bürgerinnen und Bürgern, und aus der Justiz? Gemeinsam mit einem Juristen aus Hannover haben wir uns das mal genauer angeschaut.

Am 16. Dezember diesen Jahres kippte das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg, kurz OVG, die erst seit kurzem geltende 2G-Regel in Niedersachsens Einzelhandel. Hintergrund der Entscheidung war, dass nach Angaben des Gerichts vor allem in dem von der 2G-Regel nicht eingeschlossenen Lebensmitteleinzelhandel, wo "der weit überwiegende Teil täglicher Kundenkontakte" stattfindet. Auch die Erforderlichkeit sei zweifelhaft. Damit nimmt Niedersachsen eine gewisse Sonderstellung ein. In allen anderen 15 Bundesländern wird die 2G-Regel im Einzelhandel praktiziert. In Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und in Berlin hat das jeweils zuständige Oberverwaltungsgericht Beschwerden aus dem Handel gegen die 2G-Regel zudem abgewiesen. Einige Juristen bezeichnen das Urteil derweil als "Fehlentscheidung". Aus Niedersachsens Handel kommen parallel erleichterte Töne. Das Einkaufen sei nach wie vor sicher. Professor Dr. Hermann Butzer lehrt an der Leibniz Universität Hannover Öffentliches Recht. Im Gespräch mit unserer Reporterin Julia Anders schaut er aus der Vogelperspektive heraus auf das Urteil und seine Folgen.

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Wie bewerten Sie das Urteil des OVG?

Ich glaube, man kann sich fragen, ob die Richter in Lüneburg die Omikron-Problematik so sehr in ihren Beschluss mit einbezogen haben, wie das die Landesregierung gern gehabt hätte. In der Entscheidung spielt Omikron noch keine Rolle. Es wird die Mitte Dezember bestehende Inzidenz zum Maßstab genommen, diese 2G-Regel im Einzelhandel zu überprüfen - und zwar aus der Sicht eines Gewerbetreibenden. Wenn man die Omikron-Variante und den befürchteten Anstieg der Infektionszahlen mit in Rechnung gestellt hätte, dann wäre das Gericht möglicherweise auch zu einer anderen Abwägung und anderem Ergebnis gekommen und hätte der Landesregierung vielleicht auch mehr Spielraum zugebilligt. Aber zum Zeitpunkt der Entscheidung am 16. Dezember hatte die Omikron-Variante noch nicht diese Bedeutung, sodass das Gericht meines Erachtens vertretbar diese Perspektive nicht so stark berücksichtigt hat.

Wenn wir jetzt einen Blick in die Zukunft wagen, inwieweit kann diese Entscheidung auch wieder angepasst werden?

Es wäre sicherlich möglich, dass die Landesregierung die Corona-Verordnung noch ein weiteres Mal ändert. Wegen des OVG-Beschlusses ist die 2G-Regel im niedersächsischen Einzelhandel ja aufgehoben und nur noch die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske angeordnet worden. Wenn die Landesregierung auf Grund des Infektionsgeschehens die Lage neu bewertet und die Corona-Verordnung eben doch wieder in Richtung 2G im Einzelhandel verschärfen möchte, dann kann sie das prinzipiell tun. Und erwartungsgemäß wird die Sache dann wieder beim OVG landen, und dann können die Richter natürlich, wenn die Landesregierung ihr Vorhaben gut begründen kann, zu einer neuen Beurteilung kommen. Nochmals: Die Richter haben diese Frage am 16. Dezember zu beurteilen gehabt und auf dem damaligen Kenntnisstand entschieden. Das war eine Zeitpunktentscheidung. So betrachtet, würde ich persönlich sagen, dass sie gut vertretbar begründet war. Zudem war das die erste Entscheidung in Deutschland, welche die 2G-Regel zu bewerten hatte. Da kommen viele Umstände zusammen, und ich kann mir schon vorstellen, dass das OVG bei einer neu eingeforderten 2G-Regel vielleicht großzügiger wäre.

Wie sehen Sie das Urteil mit Hinblick auf die aktuelle Infektionslage in unserer Region?

Wir haben in Niedersachsen aktuell eine Inzidenz um 200. Im Landkreis Cuxhaven liegt der Wert aktuell unter 120. Das ist nicht mit Bayern, Baden Württemberg oder den ostdeutschen Bundesländern vergleichbar. Die Situation hier ist relativ positiv im bundesweiten Vergleich. Es geht nur darum, dass wir für die Zukunft große Sorgen haben.

Nun ist der Beschluss des OVG ja nicht anfechtbar. Auch nicht für die Landesregierung.

Ich sehe in dem Beschluss keine infektionsmäßige Katastrophe. Das OVG hat meines Erachtens zutreffend aufgezeigt, dass 2G im Einzelhandel letztendlich nicht die entscheidende Weichenstellung für die Bewältigung der Corona-Krise sein wird. Der Landesregierung wird in dem Beschluss ja ganz klar vorgehalten, dass sie die tatsächliche Infektionsrelevanz nach dem vorhandenen Wissen als sehr gering bewertet. Insgesamt ist anzunehmen, dass scharfe Maßnahmen im Einzelhandel vergleichsweise wenig bringen. Wenn man die Krise in den Griff kriegen will, müsste man deshalb eher im Bereich der Grundversorgung etwas tun, etwa dort die Zahl der Ausnahmen verringern. Und man müsste natürlich auch mehr impfen. Das sind Maßnahmen, die wirklich etwas bringen. 2G im Einzelhandel ist ein kleiner Baustein von vielen, aber sicherlich kein Schlüsselbaustein in der Bewältigung der vierten oder fünften Corona-Welle. Insofern könnte unsere Landesregierung verständlicherweise auch zu dem Ergebnis kommen, dass sie keinen neuen Versuch mit 2G im Einzelhandel wagt, der bereits einmal vor dem OVG gescheitert ist. Es müssten dann andere Maßnahmen her, die mehr bringen, wie etwa das bereits angeordnete Tragen einer FFP2-Maske im Einzelhandel.

Ein Kritikpunkt an dieser Ausnahme ist die Angst, dass jetzt viele Menschen, ob geimpft oder ungeimpft, aus anderen Bundesländern nach Niedersachsen zum Einkaufen kommen. Wie bewerten Sie diese Angst?

An den Landesgrenzen ist das sicherlich ein Thema. Etwa von Ost-Westfalen aus nach Niedersachsen, oder vielleicht auch in Südniedersachsen. Aber ich würde das jetzt - ehrlich gesagt - nicht überschätzen. Generell werden meines Erachtens nicht besonders viele Menschen über die Grenze pendeln. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von Kassel nach Hannover fährt, um einzukaufen. Solch ein Einkaufsverhalten wird keine nennenswerte Größenordnung haben. Ansonsten ist das der Preis für ein föderalistisches System, den wir aber auch an unseren Außengrenzen zahlen. Die Dänen haben sicherlich eine große Versuchung, in Deutschland einzukaufen. Und das gilt ebenso für Franzosen, Belgier und Holländer. Das hat einfach mit Grenzen zu tun und ist ein ganz normaler Vorgang. Natürlich mag es in Corona-Zeiten unerfreulich sein, dass es keine einheitlichen Regeln gibt. Ich persönlich vermag aber auch nicht einzusehen, warum die Regeln in Niedersachsen genauso sein müssten wie in Bayern oder in Sachsen, eben wegen der völlig unterschiedlichen Inzidenzlagen.

Welche weiteren Faktoren sollten in Zusammenhang mit dem Urteil des OVG noch erwähnt werden?

Erwähnt werden sollte vielleicht, dass innerhalb des OVG Niedersachsen aktuell eine schon lange geplante Zuständigkeitsänderung der Senate stattfindet. Der 13. Senat, der bisher auch für das Gesundheitsrecht samt Corona zuständig war, gibt diesen Bereich an einen neu eingerichteten 14. Senat ab. Grund dürfte gewesen sein, dass der 13. Senat eine Vielzahl von Eilverfahren wegen Corona unter höchstem Zeitdruck zu entscheiden hatte. Da musste jetzt auch einmal eine Entlastung stattfinden. Diese neue Zuständigkeit führt natürlich auch zu einer anderen personellen Zusammensetzung des zuständigen Senats und eventuell auch zu einer etwas anderen, weniger bürgerrechtsfreundlicheren Rechtsprechung. Das muss nicht die Folge sein, kann aber.

Danke für den Einblick in Ihre juristische Welt.

Sehr gerne.

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