
Cuxhaven: So viel hat das Arbeitsprojekt "Herbstresidenz" mit der Realität zu tun
Im Spannungsfeld zwischen zunehmender Anfeindung und knallharten Arbeitsbedingungen gibt es sie - die tollen Beispiele, in denen Menschen aus Cuxhaven der Sprung aus der Behindertenwerkstatt in ein gleichberechtigtes Arbeitsverhältnis gelingt.
In den sozialen Netzwerken fordern sie immer sichtbarer ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft ein: Selbstbewusste junge Leute mit Beeinträchtigungen, die sich natürlich auch einen Arbeitsplatz wünschen, der ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Auch der Vox-Vierteiler "Herbstresidenz" hat dieses Thema in die Öffentlichkeit geholt. Doch wie viel hat dies mit der Lebensrealität zu tun?
Das wahre Leben ist anders
Lebenshilfe-Geschäftsführer Werner Ludwigs-Dalkner aus Cuxhaven reagiert eher verhalten auf das jüngste Inklusionsprojekt von Koch Tim Mälzer und Schauspieler André Dietz in einer Seniorenunterkunft mit dem Ziel, den jungen Leuten eine Ausbildung als Alltagshelfer zu ermöglichen, Barrieren einzureißen und Vorurteile zu beseitigen. "Natürlich ist es gut, Aufmerksamkeit hierfür zu erzeugen", sagt Werner Ludwigs-Dalkner, Geschäftsführer der Werkhof und Wohnstätten Lebenshilfe Cuxhaven gGmbH. Aber es handle sich immer noch um ein Projekt für Privatfernsehen mit aus dem ganzen Land gecasteten Mitwirkenden: "Man muss sich darüber im Klaren sein, dass das Format nicht die Realität abbildet."
Diese nämlich sehe eher so aus: "Unsere Arbeitswelt ist kein Ponyhof. Man muss es so ehrlich sagen: Wer den Ansprüchen nicht genügt, der fliegt." Gerade in der Pflege seien die Arbeitsbedingungen "knallhart".
Auch das ist Realität: Ton gegenüber behinderten Menschen wird schärfer
Verschärft werde dies durch eine gesellschaftliche Bewegung, in der die Benachteiligung behinderter Menschen durch die Mehrheit akzeptiert werde. Viele wollten sie am liebsten noch verschärfen, denn die Stimmungsmache gegen Ausgaben für Soziales treffe auch die Behindertenhilfe: "25 bis 30 Prozent der Bevölkerung finden offenbar die Ausgaben hierfür zu hoch."
Und es gehe noch weiter: Immer mehr verächtliche Kommentare im Netz sprächen behinderten Menschen ihre Rechte - sogar das Recht zum Leben - ab. "Zurück zur Euthanasie des Dritten Reichs, soweit sind wir schon wieder." Das in der UN-Behindertenkonvention verankerte Recht auf Inklusion werde aber auch durch gemäßigtere Kräfte beständig infrage gestellt, zum Beispiel mit einer kritischen Position zur Inklusion in der Schule.
Der Weg direkt von der Schule in die Werkstatt ist kein Automatismus mehr
Was aber die Arbeitsplätze angeht, gibt es auch in Cuxhaven die positiven Beispiele, in denen es die Beschäftigten aus der Grundsicherung heraus geschafft haben. Statt für den Durchschnittslohn von 1,46 Euro pro Stunde in der Werkstatt arbeiten sie im Einzelhandel, in der Pflege, in der Gastronomie oder der Schifffahrt. "Der Automatismus, dass es nach der Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung direkt in die Werkstatt geht, schwindet zusehends", bestätigt Werner Ludwigs-Dalkner.

Wichtig sei die gute Vorbereitung und Begleitung beider Seiten. Drei Kolleginnen an der Schnittstelle zwischen Werkstatt und freier Wirtschaft seien unermüdlich dabei, neue Firmen zu gewinnen und Beschäftigte mit diesen zusammenzubringen.
Lohnkostenzuschuss und Begleitung aus dem Budget für Arbeit
Wenn es nach einem erfolgreichen Praktikum zum Vertragsabschluss kommt, sichert ein betriebsintegrierter Arbeitsplatz den Arbeitnehmern einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsvertrag mit einer tariflichen oder branchenüblichen Bezahlung zu. Arbeitgeber erhalten als Ausgleich für behinderungsbedingte Einschränkungen Lohnkostenzuschüsse in Höhe von bis zu 75 Prozent. Der Anspruch auf den Weg zurück in die Werkstatt bleibt den Beschäftigten jederzeit erhalten. Betreuung und Begleitung am Arbeitsplatz geben weitere Sicherheit. Diese Assistenzleistungen können - ebenso wie die Lohnzuschüsse - aus dem im Sozialgesetzbuch 9 verankerten Budget für Arbeit finanziert werden.
Die Chance geben, ein echtes Mitglied des Teams zu werden
Inklusion fordere aber auch den Unternehmen Bereitschaft zu Veränderungen ihrer Strukturen ab, so Werner Ludwigs-Dalkner: "Sie müssen unseren Leuten die Chance geben, ein Teil des Teams zu werden und auch auf der emotionalen Ebene angenommen zu sein."
Das funktioniere an einigen Stellen so hervorragend, dass mehrere Unternehmen gezielt weitere Arbeitskräfte anwerben wollten. Auch bei den Stellen in der Bettenaufbereitung der Helios-Klinik Cuxhaven handle es sich um betriebsintegrierte Arbeitsplätze, so Werner Ludwigs-Dalkner, froh über diese sehr erfreuliche Kooperation.