
Lehrerinnen in Cuxhaven wollen mehr wagen: "Es muss was mit dem Lernen passieren"
Kaum war der Schulalltag einmal anders, zeigten Jugendliche der Oberschule Cuxhaven-Mitte Seiten an sich, die ihre Klassenlehrerinnen zum Staunen brachten. Womöglich war das gemeinsame Theaterprojekt die Initialzündung für noch viel mehr.
Was einmal werden würde aus der Idee, mit Acht- und Neuntklässlern der Oberschule Cuxhaven-Mitte das Stück "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" auf die Bühne zu bringen, hätten Kisten Bührig, Carolin Jeß und Anne Gerlach sich nicht träumen lassen, als sie vor einem Jahr begannen, sich - anfangs meist spontan zwischen Lehrerzimmer und Flur - die Ideen zuzuwerfen.
Kolleginnen waren sofort mit im Boot
Ende der 7./Anfang der 8. Klasse hatte Kirsten Bührig mit ihrer Klasse (8b) das berühmte Buch gelesen. "Kurz danach war bei Deutschlandradio das Hörbuch abrufbar. So entstand bei mir der Gedanke, dass es doch auch möglich sein müsste, dies als szenisches Theaterstück mit Musik umzusetzen", erzählt sie. Sie fing an, Texte zusammenzustellen und holte die Kolleginnen mit ins Boot.
Anne Gerlach (Klassenlehrerin 9a) und Carolin Jeß (9c) sind seit 2010 Lehrerinnen an der ursprünglichen Bleickenschule (inzwischen Oberschule), an der Carolin Jeß von 2005 bis 2007 bereits ihr Referendariat absolviert hatte. Zusammen mit der 2020 hinzugestoßenen Kollegin Kirsten Bührig bildeten sie 2020 das Kleeblatt, das als erstes die Außenstelle in der Schulstraße (alte Realschule) bezog.
Parallelen fielen den Jugendlichen sofort auf
"Als im Unterricht vor einem Jahr die Weimarer Republik Thema war, fielen den Schülerinnen und Schülern sofort Parallelen zum aktuellen politischen Geschehen in Deutschland auf", berichtet Anne Gerlach. "Mit jedem Monat verstärkte sich dieses Gefühl." Die Bedeutung des Jugendbuchs von Judith Kerr sei ihrer Klasse daher sofort bewusst gewesen. Hieraus sei die Idee entstanden, das darin geschilderte Geschehen - die Machtergreifung der Nazis und die Folgen - im Theaterstück mit Passagen aus dem Grundgesetz die Brücke in die Gegenwart zu schlagen.
"Krieg, Flucht und Verfolgung sind bei uns Alltag"
Die große Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Thema sei ganz sicher auf die Realitäten im Schulleben zurückzuführen: "Erfahrung mit Krieg, Flucht, Armut, Verfolgung, Ankommen und Abschied - das ist Alltag an unserer Schule." Erst diese Woche wieder, als eine Schülerin aus Kolumbien mit ihrer Mutter Deutschland verlassen musste.
Die hohe Fluktuation sei einer der Gründe dafür, dass das Thema NS-Zeit schon ab der 6./7. Klasse immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen aufgegriffen werde, berichtet Kirsten Bührig: "Erst in der 9. Klasse das erste Mal davon zu hören, ist einfach viel zu spät. Dann haben uns manche Schüler schon wieder verlassen." "Und es kommen immer wieder neue hinzu, denen wir die Geschichte ins Bewusstsein rufen wollen", ergänzt Carolin Jeß.
Eine andere Form der Schule erlebt
Das Theaterprojekt hat jedoch noch eine andere Ebene berührt, vor allem in der Projektwoche nach Ostern, wo sich die drei Klassen allein hierauf konzentrieren konnten: "Für vier oder fünf Tage haben wir eine andere Form von Schule erlebt." Zu sehen, welche Kräfte freigesetzt werden, wenn Lernen eine Sache der freien Entscheidung ist, Klassen- und Stufengrenzen fallen und Eigeninitiative entsteht - das alles kann für die Kolleginnen keine Eintagsfliege gewesen sein.
Schultag war zu Hause noch lange nicht zu Ende
Wenig überraschend kam in der Woche der spätere Schulbeginn gut an - dafür aber ging es danach den ganzen Tag weiter, manchmal mit Fortsetzung zu Hause; sogar am Wochenende, an dem zwei Schülerinnen der 8b aus Fotos und Filmen einen Trailer für den Tag der offenen Tür zusammenschnitten. "Außerdem gab es außergewöhnliche Nachrichten zu noch ungewöhnlicheren Zeiten", sagt Kirsten Bührig lächelnd, "zum Beispiel: ,Ich bin bei meiner Oma auf dem Dachboden, soll ich noch etwas für das Bühnenbild mitbringen?'"
"Diese Idee von Schule weiterdenken"
Den pädagogischen Gewinn durch freie Arbeitseinteilung, übergreifende Arbeitsgruppen, Rückzugsmöglichkeiten und lange Konzentration auf eine Sache wollen die Lehrerinnen nicht mehr aufgeben: "Wir haben uns in der Planungsgruppe versprochen, dass wir unsere Idee von Schule weiterdenken wollen", verrät Anne Gerlach. Auch das Gesamtkollegium fühle sich bestärkt darin, Schule weiterzuentwickeln. Carolin Jeß: "Gerade weil der Alltag nicht einfacher wird. Irgendwas muss mit dem Lernen passieren."
Die Bereitschaft ist groß, Neues zu wagen
Bestärkt durch die Experimentierfreude des Kollegiums und die schwierigen Rahmenbedingungen (unter anderem: Umgang mit Migration, Inklusion und den noch lange nicht überwundenen Folgen der Corona-Lockdowns) sei die Bereitschaft groß, Neues zu wagen: "Schließlich soll Schule ein Ort sein, wo wir gerne sein wollen, wo das Leben geschieht", so Anne Gerlach. Das erfordere die besten Bedingungen.
Wie die Jugendlichen selbst ihren Platz fanden, leise Stimmen auf einmal laut wurden und der Zusammenhalt immer enger wurde, beeindruckt die Kolleginnen immer noch. Und das sei beileibe nicht nur ein Schulthema, sondern betreffe ganz Cuxhaven: "Unsere Schülerinnen und Schüler sind nicht die, die zum Studieren gehen und nie wiederkommen. Sie sind die, die bleiben und die Stadt gemeinsam stützen."