
Sturmflut-Schauen in Cuxhaven: Wie gefährlich ist das für den Deichboden?
Wenn der Wind das Wasser in die Grimmershörnbucht treibt, wird der Deich zur Bühne für Naturschauspiele und hitzige Debatten. Doch was passiert wirklich, wenn Neugier und Naturgewalt aufeinandertreffen?
Das Rauschen kam zuerst. Dann das Rollen, das Schlagen der Wellen, das dumpfe Gurgeln am Fuß des Deiches. Wer am vergangenen Wochenende in der Grimmershörnbucht spazieren ging, spürte: Da kommt etwas. Der Wind stand aus West, die Luft war klar, das Wasser drückte in die Bucht - und binnen Minuten schwoll die Nordsee zu einer kleinen Sturmflut an.
Nicht dramatisch, aber beeindruckend genug, um Dutzende Menschen auf den Deich zu locken. Smartphones wurden gezückt, Kinder zeigten auf die Gischt, Erwachsene standen still und sahen zu, wie die Nordsee wieder einmal zeigte, wer hier das Sagen hat. Es war ein Schauspiel - und zugleich ein Streitpunkt.
Denn während sich Einheimische und Touristen am Deichrand drängten, um das Naturereignis zu erleben, liefen in den sozialen Medien die Kommentare heiß: Darf man das? Soll man das? Oder gefährdet man damit die Sicherheit der Deiche?

"Süddelpatt" am Deich - wenn Neugier die Grasnarbe gefährdet
Jürgen Schubel, Schultheiß und Vorsitzender des Cuxhavener Deichverbands, kennt solche Diskussionen. Er hat sie schon oft erlebt - und bleibt ruhig: "Es ist völlig verständlich, dass Menschen das sehen wollen. Wer an der Küste lebt, muss wissen, was Sturmflut bedeutet." Doch er weiß auch, wie empfindlich der Deichboden sein kann, besonders wenn er aufgeweicht ist.
"Wenn man auf der Stelle steht, immer ein bisschen tritt, aber nicht wirklich geht - das nennen wir hier oben 'Süddelpatt‘", erklärt Schubel. "Das zerstört die Grasnarbe. Und wo die Narbe kaputt ist, setzt die Flut zuerst an." Der Deichuntergrund in Bucht besteht aus schwerem Kleiboden - zäh, feucht, aber empfindlich, wenn er durchtritt. Die Grasnarbe ist der Schutzmantel des Deiches. Wird sie beschädigt, kann bei stärkerem Wasserstand ein kleines Loch schnell zur Schwachstelle werden.

Am Wochenende aber blieb alles im grünen Bereich. "Wir haben uns das danach die Deiche angesehen. Fußspuren waren keine zu erkennen", sagt Schubel. "Der Boden war fest genug, das hat gehalten." Die kleine Sturmflut blieb ein Naturschauspiel - kein Sicherheitsproblem.
Gefährlich wird's nicht auf, sondern vor dem Deich
Doch Jürgen Schubel warnt vor einem anderen Risiko - einem, das weniger mit Gras als mit Gaffern zu tun hat. "Wenn bei einer echten Sturmflut Katastrophentouristen mit ihren Autos kommen, sind die Straßen blockiert", sagt er. "Dann kommen wir nicht mehr mit unseren Fahrzeugen an die Einsatzorte. Das ist gefährlicher, als wenn ein paar Leute am Deichrand stehen." Kontrollen oder Verbote will er trotzdem nicht. "Keine Kontrollen", sagt Schubel entschieden. "Wenn's zu viel wird, greifen unsere Deichwachtleute lenkend ein, sprechen die Menschen direkt an. Aber grundsätzlich: Wer hier lebt, darf auch sehen, wie die Nordsee aussieht, wenn sie wütet."
Und dann lächelt der Schultheiß: "Das ist ja auch lehrreich. Man will wissen, was ein Pegelstand von 8,22 Meter bedeutet. Wo steht das Wasser dann wirklich? Das hilft, Sturmfluten künftig besser einzuschätzen - auch für uns Ehrenamtliche im Verband."

Erfahrung zählt - auch bei Festen am Meer
Wie empfindlich der Deichboden sein kann, zeigte sich zuletzt nicht nur bei Sturm, sondern auch bei Sonnenschein - oder besser: bei Regen. Beim beliebten "Sommerabend am Meer 2025" hatte der Himmel alle Schleusen geöffnet. Viele Besucher blieben zu Hause, doch einige Bühnenbauer und Lkw-Fahrer hätten besser auch darauf verzichtet, über das nasse Grün zu fahren. "Da ist ein Lkw so tief eingesackt, dass ihn die Feuerwehr herausziehen musste", erzählt Schubel. "Das hat eine tiefe Fahrspur hinterlassen, die wir mühsam wieder ausgebessert haben."
Mit Schaufel, Saat und Geduld: Der Verband füllte Erde auf, planierte, säte neu, sprengte bei Trockenheit. "Jetzt ist es wieder grün. Zur Deichschau am Freitag sieht's ordentlich aus", sagt er.
Die eigentlichen Schäden seien nicht durch Zuschauer entstanden, sondern durch fehlende Information: "Wenn die Fahrer gewusst hätten, wie weich der Kleiboden ist, wären sie da nicht langgefahren."

Verantwortung teilen - zwischen Schutz und Erlebnis
Die Zusammenarbeit mit der Nordseeheilbad Cuxhaven GmbH und der Deichbehörde läuft laut Schubel gut und ist eng. Nach dem Vorfall beim Sommerabend habe man sich zusammengesetzt, um Konzepte anzupassen: "Die Veranstalter wünschen die Auflagen künftig besser an alle Beteiligten weiterzugeben. Das begrüßen wir sehr." Denn der Deich ist nicht nur Bollwerk - er ist Teil der Stadtlandschaft, Bühne, Spazierweg, Ort der Begegnung. Schultheiß Schubel weiß, dass es diesen Spagat immer geben wird: zwischen Schutz und Erlebnis, zwischen Sicherheit und Sehnsucht nach der See. "Wir müssen den Menschen erklären, warum der Deich so ist, wie er ist", sagt er. "Er sieht aus wie eine Wiese - aber er ist ein Bauwerk. Und das will gepflegt werden."
Die kleine Sturmflut vom Wochenende hat keine größeren Spuren hinterlassen - weder im Deich noch in der Moral. Die Diskussion über das richtige Verhalten am Deich aber bleibt. Zwischen romantischer Faszination und technischem Respekt liegt nur ein schmaler Grashalm. Und solange der grün bleibt, darf man auch ruhig mal stehenbleiben und staunen.