In Niedersachsen gelten 1245 Menschen als vermisst. In Cuxhaven wurden 2023 die 81-Jährige Heide Howind und die 53-Jährige Maren Holzen als vermisst gemeldet. Foto: Schuldt/dpa
In Niedersachsen gelten 1245 Menschen als vermisst. In Cuxhaven wurden 2023 die 81-Jährige Heide Howind und die 53-Jährige Maren Holzen als vermisst gemeldet. Foto: Schuldt/dpa
Expertin im Gespräch

Zwei Frauen in Cuxhaven vermisst: Das macht die Ungewissheit mit den Angehörigen

von Florian Zinn | 02.06.2023

In Cuxhaven ist vor vier Monaten eine Seniorin verschwunden. Seit zwei Wochen wird eine Urlauberin aus Braunschweig vermisst. Was macht das mit den Angehörigen? Wo bekomme ich professionelle Hilfe? Wir haben eine Expertin gefragt.

In Niedersachsen gelten 1245 Menschen als vermisst - darunter viele Kinder und Jugendliche. Zum Stichtag 23. Mai seien 187 Kinder bis zum Alter von 13 Jahren vermisst, nämlich 103 Jungen und 84 Mädchen, teilte das Landeskriminalamt Niedersachsen anlässlich des Tages der vermissten Kinder, 25. Mai, mit.

Dr. Imke Geest ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Praxis in Cuxhaven. Von den Fällen der 81-jährigen Cuxhavenerin Heide Howind und der 53-Jährigen Maren Holzen hat auch sie gehört und spricht den Angehörigen ihr aufrichtiges Beileid aus.

Wie unterschiedlich können Betroffene damit umgehen, dass eine ihnen nahestehende Person vermisst wird?
Alles ist denkbar. Jeder trauert anders. Das hängt von dem Menschen ab, den es trifft.

Unter welchen seelischen oder körperlichen Folgen leiden Angehörige?
Tiefe Trauer, wie unterschiedlich sie auch gezeigt wird. Der Trauerprozess kann immer wieder durch die Hoffnung, den Vermissten zu finden, unterbrochen werden. So kann dieses permanente Wechselbad der Gefühle zu extremem Stress und Ängsten führen, die nicht vorübergehen. Die Hilflosigkeit durch die Ungewissheit kommt dazu.

Es ist ein Verlust eines geliebten Menschen samt des geliebten gemeinsamen Lebens. Je nachdem ob, Hilfs- und Schutzbedürftigkeit bestand oder eine psychische/körperliche Krankheit im Raum stand, können Fragen auftreten, ob man alles gemacht hat, um das Geschehene zu verhindern. Je nachdem, wen es trifft, kann es zu Schweigen und Rückzug führen oder Unruhe, Weinanfälle und sehr starke ablenkende Aktivität als Flucht vor den belastenden Gefühlen auftreten. Überwunden geglaubte psychische Probleme können wieder auftreten. Das Besondere sind in dieser fürchterlichen Situation der Kontrollverlust durch die Ungewissheit, die Akzeptanz eines möglichen Todes durch die Sichtbarkeit ist nicht möglich. Manche reagieren mit körperlichen Stresssymptomen wie Durchfall, Kopfschmerzen, Magenkrämpfen, Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme.

Nun ist es möglich, dass die Vermissten über Jahre nicht auftauchen. Wie wirkt sich ein solcher Umstand auf die Gedanken und die Psyche der Angehörigen aus?
Auch hier, je nachdem, wie psychisch belastbar die Betroffenen sind und welche Vorgeschichte sie haben, sehen die Reaktionen anders aus. Das wird Belastbarkeit genannt oder auch Resilienz. Eine vermisste Person ist ein besonders schwer zu ertragender Verlust.

Irgendwann muss jedoch ein Umgang mit der Realität gefunden werden. Welchen man findet, hängt auch von der Beziehung ab, die man zu der verschwundenen Person hatte. Neue Gewohnheiten und Rituale wie ein regelmäßiges Gedenken, innere Zwiesprachen mit der vermissten Person, Malen, Musik hören, Orte der Erinnerung aufsuchen, können die innere Anspannung bessern und der drückenden Trauer etwas entgegensetzen und helfen, Kraft zu schöpfen. Da hilft auch die Lebenserfahrung: Was hat mir vorher bei Krisen geholfen?

Der aktive Umgang nach einer gewissen Zeit mit persönlich entwickelten entlastenden Lösungen, das kann auch nach sorgfältiger Überlegung und möglicherweise Beratung die Suche in regelmäßigen Abständen in der ZDF-Sendung Aktenzeichen XY als Hilfe sein, um mit Beharrlichkeit auf eine Klärung zu hoffen.

Aber es ist eine traurige Zäsur im Leben, die die meisten verändert und die bleibt.

Ist Ablenkung ratsam? Oder hilft es nicht, vor dem Thema davonzulaufen, sondern sich lieber damit zu konfrontieren, um es zu verarbeiten?
Wie gesagt, für jeden ist etwas anderes gut. Man kann vor der Auseinandersetzung nicht davonlaufen. Der vermisste Mensch hinterlässt ja eine spürbare Lücke.

Es gibt also nicht den einen Weg. In der Regel verläuft die Trauer wellenförmig, oft -aber nicht immer - in verschiedenen Phasen. Nach Verena Kast [Schweizer Psychologin; Anm. d. Red.] sind Leugnen, Wut, schwankende Auseinandersetzung, Deprimiertheit bis zur Depression und letztendlich Akzeptanz manchmal zunächst mit Schuldgefühlen, die sehr oft unbegründet sind, aufeinander folgende Schritte. Grundsätzlich sollten wir unser ganzes Leben lang Krisenbewältigung oder den Umgang mit Schicksalsschlägen üben. Es gehört (leider) einfach dazu. Meistens wissen viele dann, was sie stärkt. Auf jeden Fall gehören Bewegung wie Spaziergänge, das Haus verlassen, reizarme, ruhige Umgebungen und eine nicht zu fordernde Tagesstruktur mit klaren Zielen am Anfang dazu.

Was sollten andere Familienangehörige oder Freunde tun - oder lieber lassen?
Keine ungefragten Ratschläge geben. Bereit sein, den Betroffenen neu kennenzulernen und sich auf ihn einzulassen. Geduld haben mit rätselhaften neuen Verhaltensweisen. Nichts persönlich nehmen. Einen sicheren Halt bieten. Auf regelmäßiges Essen achten, guten Schlaf fördern. Anbieten nachts den Trauernden nicht allein zu lassen. Sich selbst Hilfe und Unterstützung holen, zum Beispiel in einer Selbsthilfegruppe.

Wann raten Sie zu professioneller seelsorgerischer, psychologischer oder psychiatrischer Hilfe?
Kurz-und mittelfristig, wenn die Kraft zum Trösten und Halten der Wegbegleiter nicht mehr reicht. Wenn die Schlafstörungen länger als drei Tage dauern und schwer sind. Wenn der Trauernde Suizidgedanken äußert oder psychisch krank wirkt.

Mittel- und langfristig äußern die Menschen oft selbst, dass sie professionelle Begleitung wünschen. Aber auch wenn die Trauer sich zu einer komplizierten Trauer oder Depression entwickelt.

Wo bekommt man professionelle Hilfe?
Das Angebot ist vielfältig. Da gibt es die Selbsthilfeorganisation ANUAS. (Telefon 0 30 25 04 51 51 zu bestimmten Zeiten, E-Mail Vorstand@anuas.de). Telefonisch sind auch das Trauertelefon und die Telefonseelsorge jederzeit erreichbar, persönliche Gespräche bieten die Hospizbewegung und Seelsorger und Pastoren.

Sollte eine Trauer mit Tendenz zur psychischen Erkrankung vorliegen, werden vom  Gesundheitssystem Hausärzte, Psychologische/ ärztliche Psychotherapeuten, wie auch die Psychiatrische Institusambulanz Cuxhaven, die psychiatrische Tagesklinik, der Kassenärztliche Notdienst, 116 117 mit Terminvermittlung angeboten.

Im Internet gibt es viele Aufklärungsartikel und sogar Trauergruppen.

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Florian Zinn

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