
74. Jahrestag der Befreiung
Erinnerung an Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge des Stalag Sandbostel am 29. April 2019
Am 28. April 1945 kam
ein Häftling in unsere
Baracke gerannt und
rief: „Der Krieg ist zu Ende!“
Ich erhob mich vom Boden auf
die Knie, schaute durch das
Fenster, weinte und legte mich
wieder hin.“ Selbst noch in der
Erinnerung des ehemaligen
KZ-Häftlings Iwan Dmitrijewitsch
Stadnitschuk werden der
Schrecken und die Verzweiflung
der Gefangenen in einigen
Lagerteilen des Stalag XB einen
Tag vor seiner Befreiung deutlich.
Den britischen Soldaten,
die das Kriegsgefangenen-Mannschafts
Stammlager in der Nähe
von Bremervörde befreiten,
sollte das Lager als ein „kleines
Belsen“ in Erinnerung bleiben.
Nur im Vergleich mit dem zwei
Wochen zuvor befreiten Konzentrationslager
Bergen-Belsen
konnten die britischen Truppen
ihren Schock über die katastrophalen
Zustände ausdrücken.
Die Befreiung des Stalag XB
am 29. April 1945 jährt sich in
diesem Jahr zum 74. Mal. Mit
einer öffentlichen Gedenkveranstaltung
wird am 29. April daran
erinnert.
Britische Truppen befreiten
an dem Tag 7.000 KZ-Häftlinge
wie Iwan D. Stadnitschuk und
etwa 14.000 Kriegsgefangene,
italienische Militärinternierte
und Zivilinternierte aus der
ganzen Welt. In der Zeit von
September 1939 bis Ende April
1945 durchliefen 313.000 Gefangene
das Lager. Die Behandlung
der Kriegsgefangenen war
durch internationale Verträge
festgehalten, der Lageralltag war
dennoch geprägt von Verstößen
gegen diese Abkommen. Die
Ungleichbehandlung der verschiedenen
Kriegsgefangenengruppen
orientierte sich an der
rassistischen NS-Ideologie.
Besonders der Gruppe der
sowjetischen Kriegsgefangenen
verweigerte die Wehrmacht jeden
rechtlichen Schutz. Mehrere
Tausende starben im Stalag
XB an Hunger und Krankheiten.
Die Toten verscharrte die
Wehrmacht in Massengräbern
auf dem nahegelegenen Lagerfriedhof.
Ihre genaue Zahl ist
bis heute nicht bekannt. Die
sowjetischen Kriegsgefangenen
bildeten die größte Opfergruppe
im Stalag XB. Ab Mitte April
kamen KZ-Häftlinge aus dem
evakuierten Konzentrationslager
Neuengamme und einigen Außenlagern
mit Todesmärschen
in das Stalag XB. Die Zustände
in dem Lagerteil für die 9.500
KZ-Häftlinge waren katastrophal,
allein 3.000 KZ-Häftlinge
überlebten die letzten Wochen
bis zur Befreiung nicht.
Nach der Absetzung Benito
Mussolinis als Führer Italiens im
Juli 1943 zählten auch 67.000
italienische Militärinternierte
zu den Gefangenengruppen des
Kriegsgefangenenlagers Sandbostel
und seines Zweiglagers
Wietzendorf. Die Wehrmacht
brachte insgesamt etwa 800.000
italienische Soldaten als Militärinternierte
in deutsche Kriegsgefangenenlager,
so auch nach
Sandbostel. Die Deutschen
betrachteten die italienischen
Gefangenen als „Verräter“. Im
Alltag von italienischen Militärinternierten
waren Schikanen,
unzureichende Versorgung und
schlechte Unterbringung an der
Tagesordnung. Einer der italienischen
Militärinternierten war
der damals 23-jährige Michele
Montagano, der sich ab März
1944 im Stalag XB befand. Zurückerinnernd
beschreibt Montagano
seine Situation: „Ich war
ein Nichts und ein Niemand.“
Mit seinen 98 Jahren wird Montagano
dieses Jahr an den Gedenkveranstaltungen
teilnehmen
und sich mit einer Rede an die
Teilnehmenden richten.
Die Stiftung Lager Sandbostel
/ Gedenkstätte Lager Sandbostel
gedenkt am Montag, 29.
April, den Kriegsgefangenen und
KZ-Häftlingen, die im Stalag
XB gelitten haben oder verstorben
sind. Die Gedenkveranstaltung
beginnt um 16 Uhr auf der
Kriegsgräberstätte Sandbostel,
dem ehemaligen Lagerfriedhof.
Anschließend folgen die multireligiöse
Gebetsreihe und eine
Kranzniederlegung.
Im Anschluss wird die Gedenkveranstaltung
ab 17.30 Uhr
in der ehemaligen Lagerküche
Befreite KZ-Häftlinge in einer der Unterkunftsbaracken. Foto: Georges
Chertier, nicht datiert. Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Signatur:
Ang DN 1983-2695)
fortgesetzt. Nach einem Jugendbeitrag
wird der ehemalige italienische
Militärinternierte Michele
Montagano sich mit seinem
Beitrag an die Besucher wenden.
Abschließend findet um 19 Uhr
ein Gedenkgottesdienst in der
Lagerkirche statt.
Michele Montagano
wurde am 27. Oktober 1921
in Süditalien geboren. Er studierte
Jura, als er im Februar
1941 zur Armee eingezogen
wurde. Als Offizier leitete
er einen italienischen Stützpunkt
in Slowenien. Nach
dem Kriegsaustritts Italiens
1943 besetzte die Wehrmacht
Italien und Montagano
kam als italienischer Militärinternierter
über verschiedene
Kriegsgefangenenlager im
Februar 1944 nach Sandbostel.
Er lehnte mehrere Kollaborationsangebote,
auf deutscher Seite weiterzukämpfen, ab.
Im Faschismus in Italien hatte er immer zu allem ja gesagt, in
der Gefangenschaft lernte er, Nein zu sagen.
Auch als er in das Oflag 83 nach Wietzendorf versetzt wurde
und dort zum Arbeitseinsatz auf dem Fliegerhorst in Dedesdorf
gezwungen werden sollte, verweigerte er die Arbeit
zusammen mit 213 anderen Offizieren. Daraufhin stellte die
Gestapo eine Gruppe, zu der auch Michele Montagano gehörte,
für fünf Stunden an die Wand und bewachte sie mit
gezogener Waffe. Die „symbolische Erschießung“ brachte
keinen Erfolg und die Gestapo entschied daraufhin, alle in
das Arbeitserziehungslager nach Unterlüß einzuweisen. Hier
waren Misshandlungen und Schwerstarbeit an der Tagesordnung.
Im April 1945 wurde Montagano befreit und kehrte
nach Italien zurück. Heute setzt er sich für eine Entschädigung
der italienischen Militärinternierten ein.
OSTELANDMAGAZIN 2019 35